Das Finanzgericht Köln hat mit Beschluss vom 02.09.2021 dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind Art. 63 Abs. 1, 64 und 65 AEUV dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung eines Mitgliedstaates über die Erhebung der Erbschaftsteuer entgegenstehen, die für die Berechnung der Erbschaftsteuer vorsieht, dass ein zum Privatvermögen gehörendes bebautes Grundstück, welches in einem Drittland (hier: Kanada) belegen ist und zu Wohnzwecken vermietet wird, mit seinem vollen Wert angesetzt wird, während ein Grundstück des Privatvermögens, welches im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums belegen ist und zu Wohnzwecken vermietet wird, lediglich mit 90 von Hundert seines Wertes bei der Berechnung der Erbschaftsteuer berücksichtigt wird.
Finanzgericht Köln, 7 K 1333/19
Auszug aus den Gründen
"Für den erbschaftsteuerpflichtigen Erwerb des Klägers ist, soweit der Erwerb die in Kanada belegenen Grundstücke betrifft, keine Steuerbefreiung nach § 13c Abs. 1 ErbStG 2009 zu gewähren.
Der Kläger ist gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1a ErbStG 2009 für den gesamten Vermögensanfall unbeschränkt erbschaftsteuerpflichtig in Deutschland, da sowohl der Erblasser als auch der Kläger zur Zeit der Entstehung der Steuer ihre Wohnsitze in Deutschland hatten. Die Steuer ist gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG 2009 am Todestag des Erblassers, dem ….2016, entstanden. Als Erwerb von Todes wegen i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG 2009 gilt auch der Erwerb durch Vermächtnis (§§ 2147 ff. BGB), § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG 2009. Damit unterliegt auch das in Kanada belegene Grundvermögen der deutschen Erbschaftsteuer, soweit es nicht steuerfrei ist (§ 10 Abs. 1 Satz 1 ErbStG 2009).
Die Bewertung der in Kanada belegenen Grundstücke erfolgt nach § 12 Abs. 7 ErbStG 2009 i.V.m. §§ 31, 9 BewG mit dem gemeinen Wert (Verkehrswert § 9 Abs. 2 BewG), ohne dass es hierfür eines gesonderten Feststellungsverfahrens bedürfte (§ 151 Abs. 4 BewG). Der vom beklagten Finanzamt ermittelte gemeine Wert beträgt unstreitig … €. Für im Inland belegene Grundstücke wäre ebenfalls der gemeine Wert nach § 9 BewG für die Bewertung maßgebend (§ 177 BewG), der im Rahmen eines gesonderten Feststellungsverfahrens ermittelt werden müsste (§§ 151ff. BewG).
Der Wert für das in Kanada belegene Grundvermögen ist in voller Höhe der Erbschaftsteuer zu unterwerfen. Grundstücke sind nach § 13c Abs. 1 ErbStG 2009 nur mit 90 Prozent ihres Wertes anzusetzen, wenn die Voraussetzungen des § 13c Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 ErbStG 2009 erfüllt sind.
Während die in Kanada belegenen Grundstücke den Anforderungen des § 13c Abs. 3 Nrn. 1 und 3 ErbStG 2009 entsprechen, fehlt es im Streitfall an der Voraussetzung des § 13c Abs. 3 Nr. 2 ErbStG 2009. § 13c Abs. 3 Nr. 2 ErbStG 2009 erfordert, dass das zu Wohnzwecken vermietete Grundstück (§ 13c Abs. 3 Nr. 1 ErbStG 2009) im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums belegen ist. Diese Voraussetzung ist in Bezug auf die in Kanada belegenen Grundstücke nicht erfüllt, so dass die Anwendung des § 13c Abs. 1 ErbStG 2009 insoweit ausscheidet. Es verbleibt damit beim vollen Wertansatz der Grundstücke in Höhe von €.
Dem folgend wird die Belastung der Grundstücke mit den lebenslangen Nießbrauchsrechten zugunsten der Ehefrau des Erblasser (§§ 1030 ff. BGB) in voller Höhe mit dem nach § 12 Abs. 1 ErbStG i.V.m. §§ 13, 14 BewG unstreitig ermittelten Wert von € steuermindernd berücksichtigt. Einer verhältnismäßigen Kürzung der Lasten gemäß § 10 Abs. 6 Satz 5 ErbStG 2009 bedarf es nicht.
3. Zur Vorlagefrage
Möglicherweise kann sich der Kläger jedoch mit Erfolg unmittelbar auf die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 Abs. 1 AEUV berufen.
a. Zunächst ist zu klären, ob der Erwerb aufgrund eines Vermächtnisses zugunsten des Klägers ein Vorgang ist, der unter den Kapitalverkehr im Sinne des Art. 63 Abs. 1 AEUV fällt, weil Gegenstand des Vermächtnisses Auslandsvermögen in einem Drittland (hier: Kanada) ist, welches durch die zu entrichtende Erbschaftsteuer belastet wird. Der Schutzbereich des Art. 63 Abs. 1 AEUV wirkt ausdrücklich auch bei Drittstaatensachverhalten.
Der EuGH hat bereits entschieden, dass Erbschaften, mit denen das Vermögen eines Erblassers auf eine oder mehrere Personen übergeht, unter die Rubrik XI des Anhangs I („Kapitalverkehr mit persönlichem Charakter”) der Richtlinie 88/361 EWG fallen und dass es sich beim Erwerb von Todes wegen, auch wenn er unbewegliche Güter betrifft, um Kapitalverkehr im Sinne von Art. 63 AEUV handelt (zu Art. 56 EG: EuGH-Urteil vom 15.10.2009 C-35/08 – Fernandez, Slg 2009, I-9807-9822, DStR 2009, 2186 Rn. 18; zu Art. 63 AEUV: EuGH-Urteil vom 17.10.2013 C-181/12 – Welte, ABl EU 2013, Nr. C 367, 11 Rn. 20 m.w.N.).
Im Hinblick auf diese Grundsätze sprechen nach Ansicht des Senats gute Gründe dafür, dass auch der Übergang von Vermögen aufgrund eines Vermächtnisses gemäß §§ 2147, 2174, 2176 BGB in den Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 Abs. 1 AEUV fällt, auch wenn es sich um unbewegliches Vermögen, hier Anteile an bebauten Grundstücken in Kanada, handelt.
Nach Art. 63 Abs. 1 AEUV sind alle Maßnahmen verboten, die geeignet sind, Gebietsfremde von Investitionen in einem Mitgliedstaat oder einem Drittland oder die dort Ansässigen von Investitionen in anderen Staaten abzuhalten (s. EuGH-Urteil vom 22.01.2009 C-377/07- Steko Industriemontage, BStBl II 2011, 95 Rn. 23 m.w.N.). Dazu zählen nach dem Verständnis des Senats auch solche Maßnahmen, die Steuerpflichtige davon abhalten können, in einem anderen Mitgliedstaat oder Drittland belegene Wirtschaftsgüter zu behalten.
Eine Maßnahme, die den freien Kapitalverkehr dahingehend beschränkt, dass der Nachlass im Wert gemindert wird, weil die Erbschaftsteuer aufgrund des im Drittland belegenen Vermögens höher ist, erscheint daher als grundsätzlich verbotene Beschränkung zu wirken.
b. Der Senat hat Zweifel, ob eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs nach den Bestimmungen des Vertrags im Rahmen der Standstill-Klausel in Art. 64 Abs. 1 AEUV erlaubt wäre oder andernfalls gemäß Art. 65 AEUV gerechtfertigt werden könnte.
aa. Nach der Standstill-Klausel in Art. 64 Abs. 1 AEUV berührt Artikel 63 AEUV nicht die Anwendung derjenigen Beschränkungen auf dritte Länder, die am 31. Dezember 1993 aufgrund einzelstaatlicher Rechtsvorschriften oder aufgrund von Rechtsvorschriften der Union für den Kapitalverkehr mit dritten Ländern im Zusammenhang mit Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten bestehen.
Aufgrund der zeitlichen Einschränkung erscheint Art. 64 Abs. 1 AEUV hinsichtlich der erbschaft- und schenkungsteuerrechtlichen Vergünstigung für bebaute und vermietete Grundstücke in § 13c ErbStG 2009 nicht anwendbar. Die Vergünstigung des § 13c ErbStG 2009 gab es am 31. Dezember 1993 noch nicht, da sie erstmalig mit dem Gesetz zur Reform des Erbschaft- und Bewertungsrechts – Erbschaftsteuerreformgesetzes – vom 24.12.2008 (BGBl. I 2008, 3018) mit Wirkung zum 1. Januar 2009 in die deutsche Rechtsordnung eingeführt wurde.
bb. Nach Art. 65 Abs. 1 Buchst. a AEUV berührt Art. 63 AEUV nicht das Recht der Mitgliedstaaten, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln.
Diese Bestimmung ist nach der Rechtsprechung des EuGH eng auszulegen, da sie eine Ausnahme vom Grundprinzip des freien Kapitalverkehrs darstellt. Sie kann nicht dahin verstanden werden, dass jede Steuerregelung, die zwischen Steuerpflichtigen nach ihrem Wohnort oder nach dem Staat ihrer Kapitalanlage unterscheidet, ohne weiteres mit dem Vertrag vereinbar wäre (EuGH-Urteile vom 17.01.2008, C-256/06 – Jäger, Slg 2008, I-123, BFH/NV Beilage 2 2008, 120 Rn. 40; vom 11.09.2008, C-11/07 – Eckelkamp, Slg. 2008, I-6845, DStRE 2009, 560 Rn. 57; vom 11.09.2008, C-43/07 – Arens-Sikken, Slg. 2008, I-6887, DStRE 2009, 731 Rn. 51; vom 22.04.2010, C-510/08 – Mattern, Slg 2010, I-3553, BFH/NV 2010, 1212 Rn. 32). Die in Art. 65 Abs. 1 Buchst. a AEUV vorgesehene Ausnahme wird ihrerseits durch Art. 65 Abs. 3 AEUV eingeschränkt, wonach die in Art. 65 Abs. 1 AEUV genannten nationalen Vorschriften weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs i.S. des Art. 63 AEUV darstellen dürfen (EuGH-Urteile vom 17.01.2008, C-256/06 – Jäger, Slg 2008, I-123, BFH/NV Beilage 2 2008, 120 Rn. 41; vom 11.09.2008, C-11/07 – Eckelkamp, Slg. 2008, I-6845, DStRE 2009, 560 Rn. 58; vom 22.04.2010, C-510/08 – Mattern, Slg 2010, I-3553, BFH/NV 2010, 1212 Rn. 33).
Eine nationale Steuerregelung, die für die Festsetzung der Erbschaftsteuer bei einem Tatbestandsmerkmal danach unterscheidet, ob der Vermögensgegenstand im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums oder aber im Drittland belegen ist, kann nur dann mit den Vertragsbestimmungen über den freien Kapitalverkehr vereinbar sein, wenn die unterschiedliche Behandlung Situationen betrifft, die objektiv nicht miteinander vergleichbar sind, oder wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist (ständige Rechtsprechung des EuGH vgl. EuGH-Urteile vom 30.06.2016 C-123/15 – Feilen, BStBl II 2017, 424 und vom 17.10.2013 C-181/12 – Welte, DStR 2013, 2269 m.w.N., sowie Hessisches Finanzgericht, Gerichtsbescheid vom 07.03.2019 10 K 541/17, EFG 2019, 930, Rn. 38).
Der Senat sieht in dem vorliegenden Sachverhalt mit einem im Drittland belegenen Mietwohngrundstück zu einem Sachverhalt, in dem das Grundstück im Inland bzw. in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union belegen ist, objektiv keine Unvergleichbarkeit. Vielmehr unterscheiden sich die Sachverhalte lediglich bei der Belegenheit des Grundstücks. Die Auslandsbelegenheit allein scheint jedoch keine abweichende steuerliche Schlechterstellung zu rechtfertigen (vgl. entsprechend EuGH-Urteil vom 22.04.2010, C-510/08 – Mattern, Slg 2010, I-3553, BFH/NV 2010, 1212 Rn. 38; sowie Urteil des Niedersächsisches Finanzgerichts vom 22.07.2020 3 K 163/19, EFG 2021, 134). Dies gilt insbesondere deshalb, weil in Fällen der unbeschränkten Steuerpflicht (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 ErbStG 2009) in einem Besteuerungsfall Grundstücke in Drittstaaten außerhalb des EWR beim steuerpflichtigen Erwerb nach § 10 Abs. 1 ErbStG 2009 ebenso erfasst werden. Indem der Gesetzgeber die Erwerber dieser Vermögenswerte auf die gleiche Stufe mit Erwerbern von Inlands- und/oder EWR-Vermögen stellt, kann er nach Ansicht des Senats die Erwerber im Rahmen dieser Besteuerung hinsichtlich des verminderten Wertansatzes für Mietwohngrundstücke nicht unterschiedlich behandeln, ohne gegen die Vorgaben des Unionsrechts zu verstoßen.
cc. Auch eine Rechtfertigung der Beschränkung nach Art. 65 Abs. 1 Buchstabe b AEUV insbesondere zur Verhinderung von Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften, speziell auf dem Gebiet des Steuerrechts, erscheint zweifelhaft, da nach Art. 26 Abs. 4 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und bestimmter anderer Steuern, zur Verhinderung der Steuerverkürzung und zur Amtshilfe in Steuersachen – DBA Kanada 2001 – (In-Kraft-Treten: 28.03.2002, BGBl. 2002 II S. 962, BStBl. 2002 I S. 521) der Informationsaustausch zwischen Deutschland und Kanada für alle in einem Vertragsstaat erhobenen Steuern in Anspruch genommen werden kann (vgl. BFH, EuGH-Vorlage vom 15.12.2010 II R 63/09, BFHE 231, 393, BStBl II 2011, 221 Rn. 39f.). Hierzu trifft Nr. 11 des Protokolls zum DBA-Kanada 2001 (BGBl II 2002, 703) folgende Regelung: „Es wird davon ausgegangen, dass der andere Vertragsstaat sich bei Auskunftsersuchen durch einen Vertragsstaat nach diesem Artikel bemüht, die Auskünfte, die Gegenstand dieses Ersuchens sind, so zu beschaffen, als handele es sich um eigene Besteuerungsfälle, ungeachtet der Tatsache, dass der andere Staat solche Auskünfte zu diesem Zeitpunkt nicht benötigt.” (BFH, EuGH-Vorlage vom 15.12.2010 II R 63/09, BFHE 231, 393, BStBl II 2011, 221 Rn. 40). Dass es bei diesem Informationsaustausch zu Schwierigkeiten kommt, ist für den Senat nicht erkennbar.
dd. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses i.S.d. Art. 65 Abs. 2 AEUV, die eine Beschränkung objektiv rechtfertigen würden, sind für den Senat ebenfalls nicht erkennbar.
c. Die Entscheidung über die Klage hängt von der Beantwortung der Vorlagefrage ab. Sollte sich der Kläger unmittelbar auf Art. 63 AEUV berufen können, wäre ihm die Steuervergünstigung des § 13c Abs. 1 ErbStG 2009 für das in Kanada belegene Grundvermögen zu gewähren. Der nach §§ 12 Abs. 7 ErbStG 2009 i.V.m. §§ 31, 9 BewG ermittelte gemeine Wert (Verkehrswert) des kanadischen Grundvermögens in Höhe von – unstreitig – € würde mit 90 Prozent seines Wertes anzusetzen sein. Bei der Berechnung des steuerpflichtigen Erwerbs gemäß § 10 ErbStG 2009 wäre folglich der gemäß § 12 Abs. 1 ErbStG i.V.m. §§ 13 ff. BewG ermittelte Wert der Belastungen des Grundvermögens mit den lebenslangen Nießbrauchsrechten zugunsten der Ehefrau des Erblassers (unstreitiger Wert der Nießbrauchsrechte: €) verhältnismäßig zu kürzen, § 10 Abs. 6 Satz 5 ErbStG 2009.
III. Das Verfahren war auszusetzen. Ob die Aussetzung des Verfahrens unmittelbar auf § 74 FGO beruht (so BFH, EuGH-Vorlage vom 05.06.2014 XI R 31/09, BFHE 245, 447 Rn. 90) oder einen unselbständigen Teil der Vorlage bildet (so BFH-Beschluss vom 27.01.1981 VII B 56/80, BFHE 132, 217, BStBl II 1981, 324 Rn. 4), kann der Senat im Ergebnis offen lassen."