OLG München: Gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers bei Betreuung und Wohnsitz im Pflegeheim

Leitsätze:

1. Befand sich der Erblasser bis zu seinem Tod mehr als 10 Jahre in einem Pflegeheim am selben Ort, hatte er an diesem Ort seinen gewöhnlichen Aufenthalt. (Rn. 11)

2. Das gilt auch dann, wenn er während der gesamten Zeit wegen einer geistigen Erkrankung unter Betreuung stand und der Betreuer auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht ausgeübt hat. (Rn. 12 – 16)

OLG München, Beschluss v. 09.02.2023 – 33 UH 4/23e

Gründe

I.

1Die Erblasserin ist am ... 2022 in einem Pflegeheim in S. verstorben. In diesem Pflegeheim wohnte die Erblasserin seit dem Jahre 2011.

2Für die Erblasserin war mit Beschluss des Amtsgerichts Günzburg vom ... 1974 wegen geistiger Gebrechen ein Betreuer bestellt worden, dessen Aufgabenbereich die Vermögenssorge, die Gesundheitsfürsorge und die Aufenthaltsbestimmung umfasste. Seit dieser Zeit lebte die Erblasserin in verschiedenen Heimen, der Umzug in das Pflegeheim nach S. erfolgte, nachdem das Fachpflegeheim in Oy-M., in dem die Erblasserin bis dato gewohnt hatte, abgebrannt war.

3Die Betreuung dauerte bis zum Tod der Erblasserin an.

4Nach dem Tod der Erblasserin erklärte sich das Amtsgericht Sonthofen – Nachlassgericht – mit Beschluss vom 05.09.2022 für örtlich unzuständig. Es stellte darauf ab, dass die Erblasserin letztmalig geschäftsfähig war, als sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Au. gehabt habe, das zum Bezirk des Amtsgerichts Günzburg gehört.

5Mit Beschluss vom 23.01.2023 erklärte sich auch das Amtsgericht Günzburg – Nachlassgericht – für örtlich unzuständig und legte die Akten dem Senat zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vor. Es stellte im Wesentlichen darauf ab, dass es auf eine fehlende Geschäftsfähigkeit der Erblasserin nicht ankäme.

II.

6 1. Der Senat ist nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 FamFG für die Zuständigkeitsbestimmung zuständig, nachdem sich zwei Nachlassgerichte im Bezirk des OLG München durch Beschluss für örtlich unzuständig erklärt haben.

7 2. Als zuständiges Gericht war das Amtsgericht Sonthofen zu bestimmen, da die Erblasserin hier ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatte, § 343 Abs. 1 FamFG.

8 a) Unter dem „gewöhnlichen Aufenthalt“ ist der tatsächliche Lebensmittelpunkt einer natürlichen Person zu verstehen, der mittels einer Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in der Zeit vor seinem Tod und zum Zeitpunkt des Todes festzustellen ist (OLG München, Beschluss vom 22.03.2017 – 31 AR 47/17, ZEV 2017, 333; OLG Celle, Beschluss vom 12.09.2019, 6 AR 1/19, ZEV 2020, 229). Auch in Alten- und Pflegeheimen kann grundsätzlich ein Aufenthalt begründet werden (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 07.06.2016, I-3 Sa 5/15, FGPrax 2016, 240), wenn der Erblasser im Zeitpunkt des Einzugs fähig war, einen eigenen Bleibewillen zu bilden (Burandt/Rojahn/Gierl, 4. Aufl. 2022, FamFG § 343 Rn. 11; Krätzschel/Falkner/Döbereiner/Krätzschel, Nachlassrecht, 12. Aufl. 2022, § 37 Rn. 3).

9 Welche Anforderung für Begründung des (gewöhnlichen) Aufenthalts im Hinblick auf die Geschäftsfähigkeit des Erblassers zu stellen sind, ist im Einzelnen umstritten und nicht abschließend geklärt (OLG München, a. a. O.: keine Geschäftsfähigkeit, aber Fähigkeit zur eigenen Willensbildung; OLG Celle, a. a. O.: keine Notwendigkeit, die Geschäftsfähigkeit des Erblassers zu ermitteln; zum Meinungsstand: MüKoFamFG/Grziwotz, 3. Aufl. 2019, § 343 Rn. Rn. 19).

10 b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze lag der gewöhnliche Aufenthalt der Erblasserin zur Zeit des Erbfalls in Sonthofen.

11 aa) Bereits der Umstand, dass die Erblasserin vor ihrem Tod 10 Jahre lang an diesem Ort lebte, spricht in objektiver Hinsicht dafür, dass sie dort ihren „Daseinsmittelpunkt“, mithin ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dies gilt auch dann, wenn die Erblasserin aufgrund ihrer psychischen Erkrankung am allgemeinen Leben nur eingeschränkt teilgenommen hat, denn dies entsprach gerade ihrem Lebenszuschnitt. Insoweit teilt der Senat die in der Literatur vertretene Auffassung, dass auch Personen, die ohne oder mit nur wenig sozialer Integration und ohne besondere gesellschaftliche Kontakte leben, einen gewöhnlichen Aufenthalt haben/bilden (Weber/Francastel, DNotZ 2018, 163/167).

12 bb) Dem steht nicht entgegen, dass für die Erblasserin seit 1974 ein Betreuer bestellt war, zu dessen Aufgabenkreis auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht gehörte, die Erblasserin ihren Aufenthaltsort also nicht frei wählen durfte.

13 Dabei kommt es auf die umstrittene Frage, ob überhaupt eine subjektive Komponente für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts besteht und welche Anforderungen im Einzelnen erfüllt sein müssen, aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten des konkreten Falles im Ergebnis nicht an.

14 (1) Soweit lediglich ein „natürlicher“ (nicht aber rechtsgeschäftlicher) Aufenthaltswille verlangt wird (Grüneberg/Thorn, BGB, 82. Aufl. 2023, Art. 21 EuErbVO Rn. 6), liegt ein solcher hier zweifelsfrei vor, denn die Erblasserin erklärte wiederholt gegenüber ihrer Betreuerin, im Pflegeheim in S. bleiben zu wollen (und nicht in ihr früheres Pflegeheim umziehen zu wollen).

15 (2) Nach der Ansicht, nach der es auf die getroffene Aufenthaltsbestimmung des Betreuers ankommt (Weber/Francastel, DNotZ 2018, 163/167), weil die EuErbVO, auf die die Auslegung des Begriffes des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 343 Abs. 1 FamFG zurückgeht, nicht nur die höchstpersönliche Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts zulässt, wäre vorliegend ebenfalls das Gericht am Ort des Pflegeheims, in dem die Erblasserin verstarb, zuständig. Für diese Ansicht spricht jedenfalls, dass ein Betreuer den Betreuten bei der Aufhebung/Begründung eines Wohnsitzes vertreten darf (BayObLG, Beschluss vom 12.05.1992, 1 Z AR 22/92, NJW-RR 1993, 460), so dass es naheliegt, dass der Betreuer auch den gewöhnlichen Aufenthalt des Betreuten bestimmen darf. Anderenfalls würde im vorliegenden Fall der Betreuer zwar im Jahre 2011 für die Betreute den Wohnsitz bestimmt haben, diese hätte aber am Ort ihrer einzigen Wohnung keinen gewöhnlichen Aufenthalt.

16 Soweit dagegen eingewendet wird, dass es in derartigen Fällen der Betreuer in der Hand hätte, durch die Verlagerung des Aufenthalts des Betreuten das anwendbare Recht zu bestimmen (Zimmer/Oppermann, ZEV 2016, 126), kommt diese Erwägung vorliegend schon deswegen nicht zum Tragen, weil die Erblasserin Deutschland nicht verlassen hat und damit die Anwendung deutschen Erbrechts nicht zweifelhaft ist. Geht es wie vorliegend allein um die Frage, welches Nachlassgericht örtlich zuständig ist, erscheint der Verdacht einer entsprechenden Manipulation fernliegend. Im Übrigen wären bei grenzüberschreitenden Fällen etwaige Manipulationen über Art. 21 Abs. 2 EuErbVO zu erfassen.

17 (3) Schließlich besteht im vorliegenden Einzelfall auch nicht das Problem des sog. „Demenztourismus“ (MüKoFamFG/Grziwotz, 3. Aufl. 2019, § 343 Rn. Rn. 19). Zwar ist nicht zu verkennen, dass durch die „Verbringung“ eines dementen Erblassers ins Ausland die bereits aufgezeigten Probleme hinsichtlich der Frage des anwendbaren Erbrechts und der gerichtlichen Zuständigkeit entstehen können.

18 Allerdings liegt ein solcher Fall hier schon nicht vor, so dass die Frage, wo der Erblasser bei festgestellter Demenz mit einem die freie Willensbildung ausschließenden Schweregrad seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht entschieden werden muss. Zum einen fand kein Umzug ins Ausland statt (s.o.). Zum anderen lässt sich nach Lage der Akten schon nicht ermitteln, an welcher psychischen Erkrankung die Erblasserin bei Anordnung der Betreuung im Jahre 1974 überhaupt litt, so dass eine eigene Willensbildung im Hinblick auf den Ort, an dem sie sich aufhalten möchte, grundsätzlich möglich, jedenfalls aber nicht ausgeschlossen ist. Hinzu kommt, dass Mißbrauchsfälle bei grenzüberschreitendem Aufenthaltswechsel über Art. 21 Abs. 2 EuErbVO lösbar wären (Weber/Francastel, DNotZ 2018, 163/167).

19 cc) Schließlich ist zu berücksichtigen, dass unter Umständen nicht mehr festgestellt werden kann, ob die Erblasserin jemals geschäftsfähig war. Als im Jahre 1974 die Betreuung angeordnet wurde, lebte die Erblasserin in der Wohnung des alkoholkranken Vaters, der sie vor der Öffentlichkeit versteckt hielt. Es liegt damit im Bereich des Möglichen, dass die Erblasserin zeitlebens nicht geschäftsfähig war, was dann zu einer Zuständigkeit des Amtsgericht Schöneberg in Berlin führen würde, ohne dass die gesetzgeberischen Gründe für diese Auffangzuständigkeit (MüKoFamFG/Grziwotz, 3. Aufl. 2019, FamFG § 343 Rn. 26) tatsächlich vorlägen. Dass die Erblasserin, die ihr gesamtes Leben in Deutschland verbracht hat, hier keinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt haben soll, weil sie unter Umständen niemals geschäftsfähig war, erscheint fernliegend.

III. 20 Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 5 Abs. 3 FamFG.

Anmerkung

Die Entscheidung ist auch für die Frage des anwendbaren Rechts im internationalen Erbfall von Bedeutung. Hierzu verweisen wir auf den Beitrag Anwendbares Erbrecht nach der Europäischen Erbrechtsverordnung.

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