Anwendbares Recht
Das anzuwendende Recht wird nach dem internationalen Privatrecht (Conflict of Laws) bestimmt. Da das UK nicht die Europäischen Erbrechtsverordnung (EuErbVO) unterschrieben hat, ist das anwendbare Erbrecht gesondert aus englischer und deutscher Sicht zu prüfen.
Sicht der Gerichte von England & Wales
Zur Ermittlung des anwendbaren Erbrechts unterscheidet ein englisches Nachlassgericht zwischen dem beweglichen und unbeweglichen Nachlass:
- Bewegliches Vermögen (movables): Anzuknüpfen ist an das Recht des letzten Domizils (domicile) des Erblassers.
- Unbeweglich Vermögen (immovables). Anzuknüpfen ist an das Belegenheitsrecht (lex rei sitae).
Wird somit auf das Recht von England und Wales verwiesen, ist das Recht von England und Wales anzuwenden. Verweist das Recht von England und Wales auf das Recht eines anderen Staates oder Rechtsgebietes, so hat der Richter sodann zu prüfen, welches Recht ein Richter dieser Jurisdiktion anwenden würde; ist dies das Erbrecht von England und Wales, wendet das englische Gericht das Recht von England und Wales an. Dies wird als foreign court theory oder doctrine of total renvoi oder double renvoi bezeichnet.
Sicht deutscher Gerichte
Für Erbfälle ab dem 17.8.2015 ist das anwendbare Erbrecht nach den Regeln der Europäischen Erbrechtsverordnung (EuErbVO) zu bestimmen. Danach wenden deutsche Gerichte mangels einer Rechtswahl nach Art. 22 EuErbVO das Recht des letzten gewöhnlichen Aufenthalts an, wobei ein Rückverweis des englischen Rechts (z.B. für Immobilien in Deutschland) angenommen wird.
Wichtig: Die Nichtanwendung des deutschen Pflichtteilsrechts in Folge einer Rechtswahl nach Art. 22 EuErbVO zum englischen Recht kann die deutsche Öffentliche Ordnung (ordre public) verletzen (BGH mit Urteil vom 29.06.2022, Az. IV ZR 110/21). Allerdings ist zu beachten, dass die Entscheidung ist zu einem Fall ergangen ist, in dem der einzige Anknüpfungspunkt an das Recht von England und Wales die Staatsangehörigkeit des Erblassers war. Aus der Entscheidung ist nicht zu folgern, dass stets bei Wahl des Rechts von England und Wales ein Pflichtteil verlangt werden kann. So kann nach unserer Auffassung der Pflichtteil z.B. dann durch Rechtswahl vermieden werden, wenn deutsches Recht nur Kraft Rückverweisung aus dem Recht von England und Wales , z.B. betreffend unbewegliches Vermögen (immovables) in Deutschland, zur Anwendung kommt. Ferner sollte dann kein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung vorliegen, wenn der Erblasser erst vor kurzem nach Deutschland gezogen ist und seine Kinder im UK leben. Vorsorglich sollten aber stets auch andere Möglichkeiten zur Reduzierung des Pflichtteils erwogen werden (siehe hierzu auch den Beitrag Pflichtteil und Vermeidung des Pflichtteils).
Kein Pflichtteil im Erbrecht von England und Wales
Das Erbrecht von England & Wales ist vom Grundsatz der Testierfreiheit beherrscht und einen Pflichtteil im Sinne einer quotalen, wertmäßigen Beteiligung am Nachlass, gibt es in England & Wales nicht.
Hinweis: Soweit deutsches Erbrecht anzuwenden ist, kann aber natürlich ein Pflichtteil geschuldet sein. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn der Erblasser eine Immobilie in Deutschland hatte oder der Erblasser dauerhaft in Deutschland lebte.
Angemessene Regelung und Versorgung im Todesfall
Nach Sec. 1 (1) des Inheritance (Provision for Family and Dependants) Act 1975 kann beim zuständigen Gericht eine Anordnung beantragt werden, wenn der Erblasser keine angemessene finanzielle Regelung (reasonable financial provision) getroffen hat.
Domizil in England oder Wales
Nach derzeitigem Recht ist Voraussetzung für den Anspruch, dass der Erblasser sein Domizil (domicile) in England oder Wales hatte. Im Entwurf zum "Inheritance and Trustees' Powers Bill" war zwar erwogen worden, dies auszudehnen; in der Gesetz gewordenen Fassung wurde dies aber nicht übernommen.
Anspruchsberechtigte Personen
Folgende Personen sind nach Sec. 1 (1) antragsberechtigt:
- der überlebende Ehegatte
- ein ehemaliger Ehegatte des Erblassers, sofern er nicht erneut geheiratet hat.
- ein Kind des Erblassers;
- jede Person (die kein Kind des Erblassers ist), welche, in einer Ehe des Erblassers als Kind behandelt wurde.
Ferner können nach Sec. 1 (1A) auch antragsberechtigt
- jede Person (welche nicht in den vorgehenden Abschnitten behandelt wurde) welche unmittelbar vor dem Tod ganz oder teilweise von dem Erblasser Unterhalt erhalten hat;
- jede Person, welche in den letzten 2 Jahren vor dem Tod mit dem Erblasser wie ein Ehegatte zusammen gelebt hat.
"Angemessene Regelung"
Angemessen ist eine Regelung im Grundsatz dann (Ausnahmen gelten für den Ehegatten), wenn sie vernünftigerweise und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls für den Unterhalt des Antragstellers getätigt worden wäre, Sec. 1 (2) (b). Bei der Prüfung soll das Gericht berücksichtigen
- die finanziellen Mittel des Antragstellers, sein derzeitiger sowie sein zukünftiger Bedarf;
- die finanziellen Mittel eines anderen Antragstellers, sein derzeitiger sowie sein zukünftiger Bedarf;
- die finanziellen Mittel eines Begünstigten, sein derzeitiger sowie sein zukünftiger Bedarf;
- die Verpflichtungen gegenüber einem Begünstigten;
- der Wert und die Natur des Netto-Nachlasses (wobei unerheblich ist, ob das Vermögen in England belegen ist/war und ob nach den sonst geltenden IPR-Regeln englisches Recht insoweit anzuwenden ist);
- etwaige physische oder psychische Behinderung des Antragstellers oder eines Begünstigten;
- jeden anderen Gesichtspunkt, einschließlich dem Verhalten des Antragstellers oder einer anderen Person, welche nach Auffassung des Gerichts erheblich ist.
Rechte der Kinder
Erwachsene Kinder haben nach den oben dargestellten Grundsätzen regelmäßig keinen Anspruch. Allerdings kann sich aus den Umständen im Einzelfall auch etwas anderes ergeben.
Minderjährige Kinder oder Kinder in der Ausbildung können hingegen einen angemessenen Unterhalt verlangen.
Besondere Regeln für den überlebenden Ehegatten
Abweichend vom Grundsatz bedeutet der Begriff "angemessene Regelung" bei einem Ehegatten dasjenige, was unter Berücksichtigung aller Umstände angemessen erscheint, unabhängig davon, ob es für die Versorgung benötigt wird, Sec. 1 (2) (a) (surviving spouse standard). Dabei ist auch auch auf das Alter des Antragstellers und die Dauer der Ehe abzustellen, Sec. 3 (2) a. Regelmäßig soll der Ehegatte nicht schlechter stehen, als wenn die Ehe durch Scheidung aufgelöst worden wäre (imaginary divorce guideline).
Beispiel: In Re Bestermann wandte der Erblasser sein Vermögen von GBP 1,5 Mio. im Wesentlichen wohltätigen Einrichtungen zu. Seiner Witwe wandte er nur eine Rente i.H.v. jährlich GBP 3.500 zu. Auf ihren Antrag sprach das Gericht ihr GBP 259.000 zu. Sie legte Berufung ein, da sie im Fall einer Scheidung GBP 350.000 erhalten hätte. Das Berufungsgericht erhöhte daraufhin den Betrag auf GBP 378.000. Das Berufungsgericht begründete dies damit, dass ein Ehegatte nach glücklicher Ehe und einwandfreiem Verhalten nicht weniger erhalten kann als im Fall einer Scheidung, welche vielleicht sogar auf ein Fehlverhalten der Ehefrau zurückzuführen sei.
Geschiedener Ehegatte, rechtskräftige Trennung, aufgehobene Ehe
Auch ehemalige Ehegatten oder getrennt lebende Ehegatten können einen Anspruch auf angemessene Zuwendung aus dem Nachlass haben. Diese erhalten im Grundsatz aber nur dasjenige, was für eine angemessene Versorgung erforderlich ist, vgl. Sec. 1 (2) (a). Unter bestimmten Voraussetzungen kann das Gericht aber die Anwendung des besonderen Standards des Ehegatten anordnen, Sec. 14. Kein Anspruch besteht, wenn im Trennungsverfahren das Recht auf Vorsorge im Todesfall ausgeschlossen wurde, vgl. Sec. 15.
Schutz gegen Umgehung
Grundsätzlich ist auf den Wert des Netto-Vermögens des Erblassers abzustellen. Um Umgehungen zu vermeiden, wird allerdings hierzu auch das gezählt, was durch Schenkung auf den Todesfall oder aus vertraglichen Begünstigungen von Todes wegen außerhalb des Nachlasses übergegangen ist, Sec. 8. Ferner gehört hierzu, was im Wege der Joint Tenancy übergeht, Sec. 9.
Auch lebzeitige Schenkungen können berücksichtigt werden: Hat der Erblasser
- in den letzten 6 Jahren vor dem Erbfall in der Absicht, einen Antrag auf angemessene Zahlungen zu vereiteln, über Vermögensgegenstände verfügt
- ohne dass hierfür eine angemessene Gegenleistung erbracht wurde,
- und ist dies für eine angemessene finanzielle Versorgung zweckmäßig
kann das Gericht auch anordnen, dass der Beschenkte einen bestimmten Geldbetrag oder anderen Vermögensgegenstand für die Zwecke von Vorsorgezahlungen leistet.
Entsprechendes gilt für die Übertragung von Vermögen auf einen Trust.
Frist zur Antragstellung
Der Antrag ist im Grundsatz binnen 6 Monaten ab Bestellung des Nachlassabwicklers (personal representative) zu stellen. Das Gericht kann aber auf Antrag eine Fristverlängerung gewähren.